Um über das Tabu Thema Depression und Selbstmord aufzuklären, berichtet Viktor Staudt von seinen Erfahrungen und veranstaltet Vorträge und Workshops zum Thema Suizidprävention. 90 Prozent der Suizide erfolgen im Rahmen einer psychiatrischen Erkrankung. Er selbst hat einen Suizidversuch überlebt. Auf Einladung des AMEOS Klinikums Hildesheim war er im November zu Gast in Hildesheim, um aus seinem autobiografischen Buch „Die Geschichte meines Selbstmords und wie ich das Leben wiederfand“ zu lesen und seine Erfahrungen weiterzugeben.

Kurzer Rückblick: Viktor Staudt ist abenteuerlustig, sportlich und steht mitten im Leben, als er sich im Alter von nicht mal 30 Jahren vor einen fahrenden Zug stürzt, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Dass er regelmäßig unter schwerwiegenden Angst- und Panikattacken litt, blieb auch lange nach seinem Sprung unbemerkt. Nach außen machte er oft einen anderen Eindruck: Er begab sich regelmäßig in das Amsterdamer Nachtleben, hatte viele soziale Kontakte und trieb sehr viel Sport. Viktor erklärt sich die Widersprüchlichkeit wie folgt: „In der Disko war ich Niemandem gegenüber verpflichtet und konnte immer aus der Situation verschwinden, ohne, dass ich mein „komisches“ Verhalten hätte erklären müssen.“ So lebte er sein Leben viele Jahre. Circa 30 Jahre lang verbleiben die Angstattacken unergründet, fehldiagnostiziert und unbehandelt und für ihn allgegenwärtig.

„Sehr oft habe ich versucht, meinem Leben einen bunteren Anstrich zu geben. Die Jahre in der Grund- und Mittelschule und auch meine Zeit an der Universität verliefen in schwarz-weiß. Das bedeutete, dass nach außen, da, wo das „echte“ Leben pulsierte, sich alles in Farbe abspielte“, beschreibt Viktor in seinem Buch. Doch für ihn war es nicht bunt. Selbst nach Beendigung seines Jurastudiums nahm er sein Leben nicht „in Farbe“ wahr. „Ich wusste zum Beispiel, dass ein Spaziergang an der frischen Luft etwas tolles ist und, dass es guttut und den Kopf freimacht. Ich wusste es, aber ich habe es selbst nicht als solches empfinden können“, beschreibt er seine damalige Situation.

Die Panikattacken verstärkten sich. Viktor fühlte sich, als wäre er für den Alltag nicht gewappnet und im Allgemeinen nicht gemacht für das Leben. „Dieses ‚Etwas‘ trifft mich, es verwirrt und ruiniert mich. Es beschädigt mich im Kern meines Wesens. Es nimmt mir meine Würde.“, schildert Viktor die Angst in seinem Buch. Was ihm solche Angst macht, weiß er nicht, soziale Kontakte sieht er aber als Trigger für seine Angstattacken. So nahmen die Jahre vor seinem Suizidversuch ihren Lauf. Die vielen Absagen, die er seinen Freunden mitteilte, hatten zur Folge, dass er irgendwann nicht mehr einbezogen wurde. Es folgte ein Rückzug in die Einsamkeit.

Der Gedanke an einen Suizid kommt immer regelmäßiger. Viktor dachte darüber immer wieder nach, wenn er am Bahngleis stand, um mit dem Zug zur Arbeit zu fahren. „Wenn ich nicht teilnehmen kann am Leben, dann werde ich es dem Leben schon zeigen“, erläutert Viktor in seinem Buch. Irgendwann wusste er, dass der Zeitpunkt gekommen war. Er sprang bewusst vor einen heranfahrenden Zug. Entgegen seiner Hoffnung verlief der Suizid für ihn nicht zum Erfolg. Doch es kam schlimmer für ihn: Viktor wachte im Krankenhaus ohne Beine auf. Nun begann ein langer Heilungs- und Lernprozess, der sich schwieriger gestaltete als er vorerst vermutete. Auch in dieser Zeit wird er noch oft von Suizidgedanken geplagt. Weiterhin erhielt er nicht die Hilfe, die nötig gewesen wäre. Viktor erklärt die neuen Herausforderungen an das Leben wie folgt: „Ich hatte diesen Schritt gemacht, um meinem Leben, ja meinen Problemen ein Ende zu setzen. Dieses hat nicht funktioniert und sich radikal verschlimmert: Ich hatte nun ein weiteres, für mich riesiges Problem. Ich hatte keine Beine mehr – wie sollte ich jemals eigenständig mobil sein? “. Hinzu kommt nach einem Jahr die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Hierfür werden ihm keine Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Erst sechs Jahre nach dem Suizidversuch spricht seine Hausärztin ihn eher zufällig auf Depressionen an. „Als ich kurz darauf die Praxis verlasse, ahne ich nicht, dass ich die endgültige Lösung für meine Depressionen und die Angstattacken auf ein Stück Papier (Rezept) geschrieben in der Hosentasche bei mir trage“, erläutert er.

Nachdem er mit der von der Hausärztin empfohlenen medikamentösen Therapie begonnen hatte, dauerte es etwa drei Wochen. „Ich bin zum ersten Mal aufgewacht, ohne mich gleich zu verkrampfen. Ich freue mich sogar darüber, dass die Sonne scheint und erschrecke mich ebenso darüber. Bisher war es mir lieber, wenn ein Tag mit Regen begann: einem Wetter, das zu meiner Gemütslage passte, berichtet Viktor. Für ihn ist dies einer der wichtigsten Schritte in seinem seelischen Heilungsprozess. Lesungen und seine Öffentlichkeitsarbeit sollen anderen Betroffenen Hoffnung geben und Mut machen, dass sie mit ihrer Erkrankung nicht allein sind.

Bei der Lesung in Hildesheim, 19 Jahre nach seinem Suizidversuch, macht er einen aufgeschlossenen und positiven Eindruck. Er nutzt die Gelegenheit in der Dombibliothek von sich zu berichten. Dass er früher einmal Schauspieler werden wollte, ist ihm anzumerken, denn er ‚unterhält‘ das interessierte Publikum von rund 170 Personen sehr lebensbejahend und mit außerordentlicher Sympathie. Der Funke springt schnell auf das Publikum über. Die vielleicht wichtigste Botschaft des Abends die Viktor dem interessierten Publikum mitteilt: durch seinen Suizidversuch sind seine psychischen Probleme nicht beseitigt. Die Depression sieht er heute aber nicht mehr als Fremdkörper, sondern als ein Teil von ihm an.